Studien, Reflexionen, Kontexte

Selbsterkenntnis als Entwicklungsaufgabe

In Rudolf Steiners Mysteriendramen gibt es eine besondere Charakterisierung des Begriffs der Selbsterkenntnis im Kontext der dort dargestellten spirituellen Entwicklungs- und Forschungswege.

Im ersten der vier vollendeten Mysteriendramen «Die Pforte der Einweihung» gibt es in der Szene «Achtes Bild» einen Dialog zwischen den Protagonisten «Capesius» und «Maria». Sie behandeln darin die Erfahrung, die «Capesius» an einer Art Portrait durch den Maler «Johannes» machte. «Johannes» hat mit künstlerischen Mitteln, die Individualität von «Capesius» erforscht und ihm durch sein Bild eine neue Erfahrung über sich selbst ermöglicht. So jedenfalls die szenische Gestaltung.

Rudolf Steiner nimmt damit ein Konzept voraus, das nach dem Jahr 2000 deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen hat: die künstlerische Forschung. Er nutzt hier das Theater zur Darstellung philosophischer und performativer Konzepte der Selbsterkenntnis, die er figural und dialogisch erprobt.

In einem Artikel zum Thema und mit dem Titel «Performative Research» beschreibt Hanne Seitz den inzwischen etablierten Ansatz geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung: «Mit performative research wird im Folgenden ein Forschungsansatz dargelegt, der seine Herkunft der sogenannten performativen Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften verdankt und vor dem Hintergrund einer Kunstpraxis entstanden ist, die sich als artistic research gegenüber den Wissenschaften zu behaupten sucht und als practice-led research innerhalb der empirischen Sozialforschung inzwischen sogar einen eigenständigen Status beansprucht.» (vgl. https://www.kubi-online.de/artikel/performative-research, 15.01.2022)

Im dialogischen Konzept von Rudolf Steiner ist nicht nur das künstlerische Arbeiten ein Ort der Wissensproduktion, es ermöglicht dem Rezipienten – unter entsprechenden Umständen – die Teilnahme am neu erschaffenen Wissen. In einer Horizontverschmelzung ermöglicht die Forschung der Figur «Johannes» der bildnerisch erforschten Figur «Capesius» eine neue Erfahrung seines Selbst. Die Option der Erweiterung der Selbstwahrnehmung wird durch eine dritte Person (strader) ebenfalls nachvollzogen, wobei diese feststellen muss, dass sie zwar an der bildnerischen Ausgestaltung der Forschung eine Vertiefung der Erfahrung der Persönlichkeit in «Capesius» machen kann, das im Bild erkannte aber nicht an der Person oder Gestalt des Capesius selbst wahrnehmen kann. Zunächst charakterisiert die Figur «Strader» die Erfahrung am Portrait seines Freundes «Capesius»:

STRADER:

Mir ist Thomasius bewundernswert;
Und ich gestehe frei,
Daß mir in seinem Bilde
Capesius, den ich zu kennen glaubte,
Erst wirklich ganz sich offenbart.
Ich glaubte ihn zu kennen;
Das Kunstwerk zeigt mir klar,
Wie wenig ich gewußt von ihm.

Es leuchtet meines Freundes Seelenkraft
Aus diesen Augen, die gemalt doch sind.
Es lebt des Forschers Sinnigkeit
Auf dieser Stirn;
Und seiner Worte edle Wärme,
Sie strahlt aus allen Farbentönen,
Durch welche euer Pinsel
Dies Rätsel löste.

Etwas später stellt er fest, das er das im Bild Geschaute im eigenen Anschauen von Capesius nicht selbst an ihm erkennen kann:

STRADER:

Von vielem sprechen sie,
Was sie nicht selber sind.
Wo ist, wovon sie sprechen?
Nicht auf der Leinwand kann es sein;
Denn da sind geistentblößte Farben.
So ist es in Capesius?
Warum kann ich es nicht an ihm erschauen?

Mit den Mitteln der performativen Forschung lässt Rudolf Steiner also die Figur «Johannes» etwas erschaffen, dass zwar Erkenntnis erlaubt, zugleich aber die Erkenntnismittel verhüllt. So teilen sie nur ein Ergebnis nicht aber den Forschungsweg selbst mit.

Das Rudolf Steiner diese Art des Forschens als primären Zweck dieser Szene verstanden wissen will, macht er deutlich, indem er den künstlerisch Forschenden «Johannes» eine Selbstcharakterisierung seines Arbeitens in den Mund legt:

JOHANNES:

Und hab‘ ich so enthüllt ihm seine Eigenheit,
So hat mein Bild den Dienst getan,
Den ich ihm zugedacht.
Als Kunstwerk schätze ich es gar nicht hoch.

Der primäre Zweck des Bildes war also primär die «Enthüllung» seiner Forschungsergebnisse und nicht die Schaffung eines primär ästhetisch vollkommenen Werkes.

Kommen wir nun zum kurzen Dialog, der Anlass für diesen Aufsatz wurde. Das Bild von «Johannes» sollte der Figur «Capesius» einen Aspekt seines Selbst aufzeigen, der ihm selbst bisher verborgen war. Rudolf Steiner stellt diese Intention als möglich und gelingend dar. Denn er lässt «Capesius» folgendes sagen:

CAPESIUS:

Ich möcht‘ für mich es Sinnbild nennen,
Was an dem Bilde ich erlebt.
Es lehrte mich erkennen meine Seele,
Wie ich vorher es nicht vermocht.
Und überzeugend war die Selbsterkenntnis.
Johannes Thomasius erforschte mich,
Weil er die Kraft besitzt,
Durch Sinnenschein zum Geistesselbst
Durch sein besondres Schauen
Im Geist hindurchzudringen.
So seh‘ ich jenes alte Weisheitwort
«Erkenne dich» in einem neuen Licht.
Man muß, um zu erkennen, was man ist,
In sich die Kraft erst finden,
Die als ein wahrer Geist
Sich vor uns selbst verbergen kann.

Rudolf Steiner nutzt hier das platonische Konzept von Sein und Schein, wie wir es aus dem Höhlengleichnis kennen, um eine Unterscheidung einzuführen, die für den weiteren Verlauf der Dialoge um Selbsterkenntnis und Selbstwerdung eine grosse Rollen spielen werden: eine besondere der Doppelnatur des Menschen.

Während wir kulturell gewohnt sind, eine Leib-Seele oder auch Geist-Gehirn Dichotomie zu denken, führt Rudolf Steiner hier eine Teilung in «Sinnenschein» und «Geistesselbst». Wobei das «Geistesselbst» sich «als ein wahrer Geist […] uns selbst verbergen kann».

Das für Rudolf Steiner selbst gerade diese Art der Arbeit das Anliegen der Ausarbeitung seiner Mysteriendramen ist, macht er durch die Figur «Sophia» im Zwischenspiel unmittelbar vor dem hier behandelten «Achtes Bild» deutlich:

SOPHIA:

Das Gewahrwerden einer unvollkommenen Wiedergabe der sinnenfälligen Wirklichkeit muß Unbehagen hervorrufen, während die unvollkommenste Darstellung dessen, was sich hinter der äußeren Beobachtung verbirgt, eine Offenbarung sein kann.

In diesem Sinne gelingt es sowohl «Capesius» als auch «Strader» hinter den Sinnenschein vorzudringen und das zu entdecken, was «Johannes» erforscht hat.

Das mit hinter dem Sinnenschein keine räumliche Angabe gemacht hat, führt Rudolf Steiner ebenfalls vor, indem er «Strader» dieses «hinter» zunächst wörtlich nehmen und dann einsehen lässt, dass es um etwas anderes geht:

STRADER:

Die Leinwand, ich möchte sie durchstoßen,
Zu finden, was ich suchen soll
Wo fass‘ ich, was dies Bild
In meine Seele strahlt?
Ich muß es haben.
O, ich betörter Mann.

In seinem Vortrag nach der Erstaufführung in München bespricht Rudolf Steiner sein besonderes Anliegen zur Darstellung von zwei Arten von Selbsterkenntnis. Die eine kommt mit den Worten «O Mensch erkenne Dich» zum Ausdruck, die andere mit «O Mensch erlebe Dich». Die eine Selbsterkenntnis ist diejenige, die wir im Alltag kennen, wenn wir uns selbst über die Abstraktion mit einem allgemeinen Konzept selbst einzuordnen suchen oder über die Reduktion auf einen Aspekt unserer eigenen Persönlichkeit fokussieren. Die andere könnte man auch als Selbsterfahrung bezeichnen. Sie basiert nicht auf einer Analyse oder Verallgemeinerung, sondern bleibt im Erleben. Sie hat daher eine mehr emotionalen Charakter als die denkerische Einordnung oder Erfassung von Aspekten der eigenen Persönlichkeit.

Im Vortrag «Über Selbsterkenntnis, anknüpfend an das Rosenkreuzermysterium ‘Die Pforte der Einweihung’» am 31.10.1910 in Berlin charakterisiert Rudolf Steiner noch eine weitere Form der Selbsterkenntnis, die für ihn zum Weg der Initiation in rosenkreuzerische Weisheit gehört:

«Es ist eine tiefe Wahrheit, daß der, der eine Entwickelung durchmacht, Selbsterkenntnis nicht durch Hineinbrüten in sich selbst erlangt, sondern durch Untertauchen in einzelne Wesenheiten.» (vgl. Rudolf Steiner: Über Selbsterkenntnis, anknüpfend an das Rosenkreuzermysterium ‘Die Pforte der Einweihung’, GA 125, Dornach 1992, S.104)

Diese Art der Selbsterkenntnis macht das Selbst als ein Instrument erfassbar, mit dem man in andere Menschen untertauchen kann, um diese gewissermassen von innen aus sich selbst zu erfassen. Am Beispiel der Art, wie in Steiners Auffassung «Johannes» die Persönlichkeit von «Capesius» performativ erforscht, verdeutlicht er diese andere Selbsterkenntnis:

«Eine andere, tiefere Kraft zeigt sich da, wie wenn er selber es wäre, der in die Seele des Capesius hineinkriecht und das erlebt, was da vorgeht.»

Und er erläutert diese Art der Erkenntnis von tieferen Kräften im eigenen Selbst mit folgenden Worten:

«Daher wird es so unendlich bedeutsam, daß er da sich selbst entfremdet wird. Es ist von Selbsterkenntnis nicht zu trennen, daß man sich losreißt von sich selbst und im anderen aufgeht.»

Dadurch wird deutlich, warum «Strader» im Erleben der Ergebnisse dieser Erkenntnismethodik nicht zugleich die Methode selbst erfassen kann. Denn er ist in dieser Art der performativen Forschung noch gänzlich ungeübt, während «Johannes» sie bereits über Jahre erprobt hat.

JOHANNES [in Meditation]:
So hör’ ich sie seit Jahren schon,
Die inhaltschweren Worte.

Hier soll es jedoch um einen allgemeineren Aspekt der Selbsterkenntnis als Entwicklungsaufgabe gehen und nicht um die von Rudolf Steiner geschilderten besonderen Bedingungen eines meditativen Schulungsweges.

Denn die Erfahrung, die «Capesius» im ersten Drama am Kunstwerk von «Johannes» macht, enthält eine Aufforderung, die sich auch ohne besonderes Interesse an einer tieferen spirituellen Schulung als sinnvoll erweisen kann. Dazu paraphrasiert Rudolf Steiner in der Figur «Maria» die Einsicht von «Capesius», dass ihm Aspekte seines wahren Selbst zurzeit noch verborgen sind:

MARIA:
Man muss, um sich zu finden,
Die Kraft entfalten erst,
Die in das eigne Wesen dringen kann,
In Wahrheit sagt das Weisheitwort:
Entwickle dich, um dich zu schaun.

Diese Aufforderung, an sich selbst zu arbeiten, sich selbst weiterzuentwickeln, findet sich als motivierendes Erlebnis bei einem anderen zeitgenössischen Dichter: Rainer Maria Rilke.

Im Gedicht «Archaïscher Torso Apollos» von 1908 beschreibt Rilke eine Erfahrung an einer teilweise zerstörten Plastik als aufrüttelnd und auffordernd. Diese Aufforderung zur Selbstwandlung, zur Selbstentfaltung erscheint darin imperativisch: «Du musst dein Leben ändern.».

Hier zunächst das ganze Gedicht von Rilke:

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

(zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Archa%C3%AFscher_Torso_Apollos, 16.01.2022)

Während Rudolf Steiner in seinem Drama, dem durch «Johannes» gemalten Portrait von «Capesius» nicht nur einen direkten Bezug von Sehen, gesehen werden und sich im Sehen des anderen selbst neu Sehens darstellt, wird hier die Erfahrung des Gesehenwerdens an einem Kunstwerk ohne solchen persönlichen und damit direkten Bezug thematisiert. Dennoch bleibt hier ebenfalls eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis und Selbstwandlung die Folge.

Beide Texte beziehen sich zudem auf das Sagen umwobene antike Orakel von Delphi im Tempel des Apollo und dessen Aufforderung Gnothi seauton («Erkenne Dich selbst!»). Beide Texte, sowohl der von Steiner wie von Rilke, betonen dabei den direkten Lebensbezug dieser Art der Selbsterkenntnis oder Selbsterfahrung. Denn diese weist auf einen unvollendeten, unergriffenen Aspekt des eigenen Selbst hin, der sich noch zeigen, noch ins Leben treten, noch realisiert werden will.

Der bekannte Philosoph Peter Sloterdijk nimmt das Gedicht von Rilke zum Anlass für einen Essay mit dem Titel: «Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik». (Vgl. auch Vortrag von 2009 im «Zentrum für Kunst und Medien» in Karlsruhe, https://youtu.be/HACuGjLWElw. 16.01.2022)

Im Wikipedia Artikel zu diesem Essay wird die Kernaussage des Essay wie folgt zusammengefasst:

„Du musst Dein Leben ändern“ ist für ihn die Zusammenfassung, Verdichtung und Eindampfung aller religiösen Lehren, Übungsanleitungen und Trainings die den Menschen auf seine „vertikalen Spannungen“ hinweisen und ihn erinnern sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden, über sich hinauszuwachsen und letztlich „mit einem Gott“ zu trainieren.

Wir sehen also, dass sich die Thematisierung einer vertikalen Selbsterkenntnis im «Rosenkreuzermysterium» «Die Pforte der Einweihung» nahtlos mit anderen Anstrengungen in diese Richtung verbinden.

Weitere Untersuchungen zu Rudolf Steiners besonderer Auffassung, Praxis und Anregung zu vertikaler Selbsterkenntnis sollten die hier vorgelegte ergänzen.