Persönliche Motivation
Ich lernte die Mysteriendramen im Winter 1985/86 kennen. Zuvor hatte ich nach einer durch einen schweren anaphylaktischen Schock ausgelösten Nahtoderfahrung begonnen, die Welt neu anzuschauen. Damals war ich 20 Jahre alt. Als Hilfe für die Verarbeitung dieser Erfahrung folgte ich meiner Intuition, denn ich hatte keine andere Stütze dafür. Meine Intuition führte mich zur Reclam Bibliothek und motivierte mich dazu, sehr viel zu lesen. Die Auswahl der Texte erfolgte ebenfalls intuitiv. Die damalige Buchhandlung meiner Wahl verfügte praktisch über die gesamte damals erhältliche Reclam Bibliothek. Und die Bücher selbst waren für mich bezahlbar. Es zog mich insbesondere zu Dramen hin. Denn diese vermittelten mir Erfahrungswelten anderer Menschen. Und es zeigte sich, dass mich solche Erfahrungswelten besonders interessierten. Biografien und theoretische Schriften, die Erfahrungen mehr beschrieben oder analysierten, sprachen mich nicht gleich stark an.
Ein beständiger Begleiter wurde mir Goethes Faust (Erster Teil). Hier sprachen sich Betroffenheit und Erfahrung auf eine besondere Art aus. Andere wichtige Begleiter waren mir bestimmte Sentenzen aus dem Tao Te Ching, den Paulusbriefen sowie aus den Betrachtungen von Lessings „Erziehung des Menschgeschlechts“.
Es entstand in mir der Eindruck, dass meine bisherige „Erziehung“ äusserst unvollständig war. Wie aber liess sich diese komplettieren? An welche lebendigen Erfahrungen konnte ich für mich sinnvoll anschliessen? Und wieso schloss die mir vermittelte gymnasiale Grundbildung zentrale Fragen des Menschseins aus? Wohin gehörte diese Suche, die mir existenziell erschien, im Verhältnis zur Aufgabe, die eigene Existenz materiell und sozial zu sichern? Die damals mir vertraute Lebenswelt bot hierzu kaum konkrete Möglichkeiten.
Diese und andere Fragen führten mich zur Entdeckung des Werks und der Organisationen von Rudolf Steiner und seiner Nachfolger. Eine Art Zufall führte mich in eine auf Anthroposophie spezialisierte Buchhandlung in Hamburg. Hier ergriff ich zunächst Rudolf Steiners Text „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“ und fühlte mich darin sogleich relativ zuhause. Denn hier wurde an die mir wichtigen Gedanken von Gotthold Ephraim Lessing selbständig und wie mir schien folgerichtig und stimmig angeschlossen.
Doch dieses Buch war meine zweite Wahl. Meine erste war Band 1 der Taschenbuchausgabe der „Vier Mysteriendramen“. Und was ich hier las kam der Stimmung und Ausrichtung nach recht nah an das, was mich zu meiner Suche motivierte, die Erlebnisse meiner Nahtoderfahrung. Es entstand in mir der Eindruck, dass ich mit Rudolf Steiner einen Autoren gefunden hatte, der nicht nur Erlebnisse beschreiben, sondern diese auch einordnen und weiter entwickeln konnte.
In dem Buch „Die geistige Führung …“ erhielt ich neben dem Erlebnis der Mysteriendramen brauchbare Hinweise zur Einordnung solcher Erfahrungen. Denn diese gehören zu einem Werden, das nicht nur eine individuelle Erfahrung, sondern die in einer kulturellen und wahrscheinlich menschheitlichen Evolution zu begreifen sind.
Wie sich die biologischen Körper und Lebensformen in einer Spannung von Schöpfung und Evolution befinden, so auch die menschliche Erfahrung, die menschliche Seele und der menschliche Geist.
Ein medizinisches Problem hatte mir eine Erfahrungswelt eröffnet, die meine bisherige Erfahrungswelt zumindest ergänzte. Sie schien sich aus sich selbst jedoch als eine übergeordnete Wirklichkeit zu zeigen. Und aus dieser beleuchtete sich das persönliche Dasein in Raum und Zeit auf eine eigentümliche und immer wieder schwer fassbare Art und Weise. Dieser Beleuchtung zu folgen, wurde mir zu einem starken Antrieb und Rudolf Steiners Mysteriendramen wurden mir zu einem wichtigen und unverzichtbaren Bestandteil meiner Auseinandersetzung mit mir und der Welt.
Die Kernmotivation meiner Beschäftigung mit diesen Mysteriendramen und ihrem Kontext ist also weder literarisch noch philosophisch, sondern biografisch existenziell. Rudolf Steiner wurde über seine „Vier Mysteriendramen“ für mich zu etwas, was die Buddhisten einen Wurzellehrer nennen. Und die Mysteriendramen wurden mir zum Wurzeltext meiner spirituellen Recherche und Entwicklung.
Da mir aber auch eine reflektierte „Wut des Verstehens“ (Jochen Hoerisch) eigen ist, habe ich mich nicht auf meine eigenen Erfahrungen allein stützen und das mir Dargestellte gelassen in meine Welt übertragen können. Das stünde auch im Widerspruch zu den Inhalten der Mysteriendramen selbst. Denn in diesen werden persönliche Entwicklung und die Entwicklung des Verstehens und Gestaltens der eigenen Lebenswelt in Wechselwirkung und Abhängigkeit mit und von einer Gemeinschaft dargestellt.
So ist eine Grundlehre der Mysteriendramen, dass spirituelle Entwicklung in einer Gemeinschaft von „Gesinnungsgenossen“ stattfindet. Und damit ist auch deutlich, dass diese Gemeinschaft nicht in einer formalen Organisation wie einem Verein oder Club zu finden ist, sondern überall und nur dort, wo Erfahrung, Interessen und Anliegen die Verbindung herstellen.