Mysterium oder Mysteriendramen
Wir kennen die dramatischen Ausführungen Rudolf Steiners heute unter dem Namen „Mysteriendramen“ oder gemäss dem Titel der Gesamtausgabe (GA 014) als „Vier Mysteriendramen“. Mit dem ersten Drama von 1910 wurde zunächst nur ein Drama erstellt. In seinen eigenen Erläuterungen nach der Aufführung dieses ersten Dramas nannte Rudolf Steiner dieses Werk „das Rosenkreuzermysterium“ (GA 125, S.92) oder im Untertitel der Erstausgabe „ein Rosenkreuzermysterium“ (GA 012, S.1).
In seinem Vortrag „Über Selbsterkenntnis“ in Basel, vom 17.10.1910 beschreibt Rudolf Steiner das Anliegen, das er mit seinem ersten Drama anstrebt, wie folgt: „So steht dieses Mysterium da wie ein Bild der Menschheitsevolution in der Entwickelung eines einzelnen Menschen.“ (GA 125, S.103) Er möchte also einerseits die Entwicklung eines einzelnen Menschen darstellen und andererseits Aspekte der Evolution der Menschheit. Rudolf Steiner wählt dieses Vorgehen aus folgendem Grund: „Bei alldem, was als allgemeine Lehre gegeben wird, können wir nur Richtlinien empfangen. Daher kann man die vollständige Wahrheit nur dann geben, wenn man an eine individuelle Seele anknüpft, an eine Seele, die ihre menschliche Individualität mit aller Eigentümlichkeit darstellt.“
Rudolf Steiner macht hier auf eine Spannung aufmerksam, die zwischen allgemeinen Wahrheiten und der Wahrheit des Individuums besteht: „Bei alldem, was als allgemeine Lehre gegeben wird, können wir nur Richtlinien empfangen. Daher kann man die vollständige Wahrheit nur dann geben, wenn man an eine individuelle Seele anknüpft, an eine Seele, die ihre menschliche Individualität mit aller Eigentümlichkeit darstellt.“ (GA 125, S.103f).
Steiner nimmt damit auch Bezug auf seine eigenen Ausführungen zu allgemeinen Entwicklungsvorgängen wie er sie in der Aufsatzsammlung „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ von 1906 (GA) und in seinem Grundlagenwerk „Die Geheimwissenschaft im Umriss“ von 1910 (GA) dargestellt hat.
In dem erwähnten Vortrag in Basel kontrastiert Steiner die unterschiedlichen Möglichkeiten von Darstellungen, die auf das Allgemeine zielen, mit dem, was in der dramatischen Ausgestaltung der Entwicklung der Hauptfigur des ersten Dramas, Johannes Thomasius, möglich ist, wie folgt: „In dem Buch «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist die Entwickelung dargestellt, wie sie bei jedem Menschen sein kann, also einzig die Möglichkeit, wie sie real sein kann. Wenn man Johannes Thomasius darstellt, schildert man einen einzelnen Menschen. Aber dadurch beraubt man sich der Möglichkeit, die Entwickelung im allgemeinen zu schildern.“ (GA 125, S.121).
Diesen Kontrast verdeutlicht Rudolf Steiner in einem weiteren Vortrag in Berlin am 31.10.1910, als vierzehn Tage später. Im Vortrag mit dem Titel „Einiges über das Rosenkreuzermysterium «Die Pforte der Einweihung»“ macht er deutlich, dass die besondere Darstellung im Drama den allgemeinen Darstellungen überlegen ist: „Alle die Dinge, die Sie – und gegenüber okkulten Dingen ist es gewiss berechtigt, so zu sprechen – in einer Art von stammelnder Sprache finden in der Schrift «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», was da enthalten ist als eine Beschreibung des Weges hinauf in die höheren Welten, das alles verbunden mit dem, was in der «Geheimwissenschaft im Umriss» in einer anderen Form gesagt werden durfte, ist im Grunde genommen viel intensiver, lebensrealer und wirklicher, weil viel individueller, in dem Rosenkreuzermysterium zu finden.“ (GA 125, S.125).
Auch wenn es durchaus interessant wäre, dieser Spannung weiter nachzugehen und die Aussagen von Rudolf Steiner mit anderen Überlegungen zum „Thema die Spannung zwischen allgemeinen Richtlinien oder Abstraktionen und dem konkreten, realen Einzelleben“ zu kontrastieren, geht es hier eigentlich um etwas anderes. Denn die hier zitierten Vortragsstellen, in denen Rudolf Steiner Bezug nimmt auf sein Drama „Die Pforte der Einweihung“, zeigen klar, dass er dieses Drama als „Mysterium“ oder „Rosenkreuzermysterium“ bezeichnet. Im Oktober 1910 gibt es nur dieses eine Drama. Und Rudolf Steiner nennt es nicht „das erste Mysteriendrama“, sondern wie angegeben als „Mysterium“ oder „Rosenkreuzermysterium“. Damit ist klar, dass hier kein Rahmen auf einen grösseren Zusammenhang, etwas von sieben Dramen, hergestellt wird. Es wird vielmehr einzig Bezug genommen auf das, was bereits erarbeitet wurde.
Rudolf Steiner beschreibt dazu seine eigene Arbeitsweise wie folgt: „Ich kann die Versicherung geben, dass nichts von dem, was ich hinterher an dieses Mysterium anknüpfen werde, und von dem ich doch weiss, dass es darin ist, mir bewusst war, als die einzelnen Bilder gestaltet wurden.“ (GA 125, S103).
Nun, wir können diese Aussage ernst nehmen und ihm glauben, dass er hier auf eine bestimmte Art kreativ und nicht schematisierend gearbeitet hat, oder wir können andere Ideen verfolgen.
Über seine Auffassung, wie sein „Mysterium“ entstanden ist, spricht Steiner über den Vergleich zu seiner Auffassung über die Entstehung von Goethes „Faust“ ebenfalls im bereits erwähnten Vortrag in Berlin: „Daher wäre die denkbar schlechteste Interpretation eines Kunstwerkes die, welche darauf ausginge, Begriffe und Ideen, Gesetze, die man von sonst irgendwoher weiss, in eine Dichtung zu bringen. Und der würde nicht künstlerisch prägen, der abstrakte oder symbolische Begriffe in irgendein Kunstwerk hineinbringen würde. Daher würde es zu den schlechtesten Methoden gegenüber Kunstwerken der Vergangenheit gehören, in denen wirklich okkulte Kraft gewirkt hat, wie zum Beispiel im «Faust», wenn wir Begriffe und Ideen, die wir kennen, wieder in den Kunstwerken suchen würden.“ (GA 125, S.127)
Meiner Auffassung nach deutet Rudolf Steiner mit diesen Sätzen darauf hin, dass nicht abstrakte Begriffe hinter dem Konzept „dieses Mysteriums“ zu suchen sind, sondern die kreative Ausgestaltung der Erfahrung mit okkulter also für das gewöhnliche Bewusstsein verborgener oder unbewusster „Kraft“. Hierzu findet sich auch eine interessante Aussage in Rudolf Steiner zweitem Drama „Die Prüfung der Seele“ (GA 014, S.162f):
BENEDICTUS
Es wollen meine Worte nicht das allein nur sagen,
Was als Begriffeshüllen sie verraten;
Sie lenken Seelenwesenskräfte
Zu Geisteswirklichkeiten;
Ihr Sinn ist erst erreicht,
Wenn sie das Schauen lösen in den Seelen,
Die sich ergeben ihrer Kraft.
…
Nehmen wir diese Aussage zum bisher Gesagten hinzu, wird deutlich, dass es insbesondere in den Mysteriendramen, aber wohl auch in allen auf die persönliche Entwicklung zielenden Aussagen Rudolf Steiners nicht darum geht, abstrakte Ideen oder Begriffe zu vermitteln, sondern latente oder noch keim- oder samenhafte Fähigkeiten entwickeln zu helfen.
Solange es nur ein Mysteriendrama gab, nahm Rudolf Steiner auf dieses Bezug, indem er es „Mysterium“ oder *Rosenkreuzermysterium“ nannte. Erst als mehrere Dramen vorlagen, wurde aus diesem Einzelfall eine Tetralogie (Link vom 14.02.2022).