Studien, Reflexionen, Kontexte

Der Sonne Licht durchflutet

Das Rosenkreuzermysteriem „Die Pforte der Einweihung“ beginnt mit einem (von Kindern) gesungenen Gedicht, das eine Art Sonnenhymnus ist:

SINGEN DER KINDER

Der Sonne Licht durchflutet
Des Raumes Weiten,
Der Vögel Singen durchhallet
Der Luft Gefilde,
Der Pflanzen Segen entkeimet
Dem Erdenwesen,
Und Menschenseelen erheben
In Dankgefühlen
Sich zu den Geistern der Welt.

Es werden hier fünf Elemente thematisiert:

Feuer – Der Sonne Licht
Raum – Raumes Weiten
Luft – Luft Gefilde
Erde – Erdenwesen
Wasser – Menschenseelen

Es wird sicher Einwände geben, dass ich hier „Menschenseelen“ als Symbol für Wasser deute. Das ist aber nicht soweit hergeholt, da das Wasser symbolisch das Gefühlsleben des Menschen repräsentiert. Daher könnte man auch sagen: Wasser – Dankgefühle.

Zudem werden zwei Welten unterschieden: die Welt der fünf Elemente (Essenzen) und die Welt des Geistes, der Geister. Diese wirken hier als Schöpferwesen, denen die Menschen für ihre Schöpfungstaten dankbar sind.

In der profanen Welt reden wir meist nur von vier Elementen: Feuer, Erde, Wasser, Luft. Es ist aber nicht unüblich, dass in tiefgründigeren Traditionen fünf Elemente benannt werden. Das fünfte Element ist dann manchmal der Aether oder der Raum (skrt. Akash = Himmel, Raum oder Äther).

Pentagram

5 Elemente oder Essenzen

Die geistigen Kräfte hinter diesen Essenzen oder Elementen werden zum Beispiel im tibetischen Buddhismus als Buddha-Familien bezeichnet und zudem den fünf Sinnen zugeordnet:

Erde – Süden – Ratnasambhava – Gelb – Hörsinn
Feuer – Westen – Amithaba – Rot – Riechen
Luft – Norden – Amoghasiddi – Grün -Geschmackssinn
Erde – Osten – Vairocana – Weiss – Sehsinn
Raum – Zentrum – Akshobya – Blau – Tastsinn

(zitiert in Anlehnung an: Berzin Archiv)

Diese Art der meditativen, kontemplativen oder konzeptionellen Betrachtung bleibt in der Regel fortgeschrittenen Studierenden vorbehalten. Diesen inneren Kreis von Schülern oder Studierenden nennt man auch den esoterischen Kreis oder die Studierenden der Esoterik, also der Lehren im inneren Kreis. Diese Lehren sind oft ohne vorbereitende Studien und Erfahrungen nicht oder nur mit zusätzlichen Erläuterungen richtig zu verstehen. Sie sind dadurch nicht grundsätzlich verborgen oder verschlossen. Es ist aber erforderlich, zuerst die Schlüssel (Symbole) kennen und anwenden zu lernen, um mit ihnen sachgemäss arbeiten zu können. Es braucht für ihr Verständnis also Vorkenntnisse.

Was hier wie ein Kinderlied daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Schlüssel für das Verständnis des Rosenkreuzermysteriums. Ohne solche Schlüssel kommt man nicht tiefer in das Drama, das zugleich ein Mysterium ist, hinein.

Bereits mit den ersten Worten des Textes teilt sich die Zuhörerschaft in Theaterbesucher*innen und Mysterienschüler*innen oder in Literaturinteressierte und die das Licht der Mysterien Suchenden.

Für letztere sind die ersten Worte vielversprechend:

Der Sonne Licht durchlutet
Des Raumes Weiten

Feuer und Bewusstsein, Geist und Erfahrung, Licht und Dasein, Tag und Nacht klingen an. Zeit und Raum werden thematisiert.

Wann durchflutet der Sonne Licht des Raumes Weiten? Am Mittag. Hochmittag. Der Mittag ist die Arbeitszeit der Esoteriker. Sie schliessen ihre Augen beim höchsten Stand der Sonne, um mit ihrer Kraft das volle Potenzial des Bewusstseins zu entfalten, klar und vollständig zu sehen.

Daher wird in bestimmten buddhistischen Traditionen das Schauen des Erwachten (Buddha) mit offenen Aufgen gezeigt. Es geht nicht darum, die Augen zum Schlaf zu verschliessen, sondern mit anderen Aufgen zu sehen oder mit den Augen anders zu sehen.

Das mystische Verschliessen der Augen, erzeugt keine Scheuklappen oder eine Augenbinde. Es ist das Sehen, ohne das Alltagsbewusstsein, ohne die Alltagsgeschäftigkeit, ohne das alltägliche, allzu menschliche Begehren. Es ist ein Sehen ohne den Automatismus des Reiz-Reaktion-Geschehens. Es ist ein Verweilen im Bewusstsein des Sehens.

Der Vögel Singen
Durchhallet der Luft Gefilde

Für den Theaterbesuchenden tauchen hier vielleicht Erinnerungen an die eigene Kindheit auf. Oder solche an andere Momente, in denen man den Vögeln lauschte. Für den Esoteriker sind diese Worte wiederum eine Einstimmung in das, was nun im Mysterium im Raum erklingen wird: die Sprache der Vögel.

Hierzu schreibt Philipp Wagner in spektrum.de: „In der Mythologie und der Literatur des Mittelalters betrachtete man die „Sprache der Vögel“ als eine magische, göttliche und perfektionierte Form der Sprache. Die Fähigkeit, die Sprache der Vögel zu verstehen galt als Zeichen großer Weisheit und zeugte von einer besonderen Verbundenheit mit einer Gottheit. Sie wurde auch als „Sprache der Engel“ oder „Sprache des Paradies“ (Adamitische Sprache) bezeichnet bzw. interpretiert. Man vermutete auch, dass sich Prophezeiungen hinter dem Gesang der Vögel verbergen könnten.“ (besucht 19.02.2022)

Auch die weiteren Worte dieses Gesichts sind in ähnlicher Weise Einstimmungen und Vorbereitungen. Sie verweisen auf die Geduld, den Segen der Worte reifen zu lassen, bis sie von selbst der Erde „entkeimen“, sowie darauf, den Kräften gegenüber dankbar zu sein, die diesen Segen ermöglichen.

Diese Ausführungen liessen sich noch ergänzen und weiter vertiefen. Es ist aber bereits deutlich, dass es hier zumindest um mehr gehen kann, als ein poetisches und vielleicht romantisierendes Kinderlied.

Es ist natürlich nicht falsch, bei den Worten dieses Kinderlieds an die Sonne, die Vögel, die Pflanzen, die Dankbarkeit der Menschen und die Schöpferkräfte des Geistes zu denken. Es geht aber um mehr.

Über die Dramen hin verteilt, gibt es viele solcher Schlüsselmomente und Schlüsselmotive. Persönlich habe ich bemerkt, wie sich mir mit der Zeit und Wiederholung mehr und mehr erschlossen haben. Und ich denke, dass ich mit jedem neuen Lesen oder Sehen auch weiter neue entdecken werde.

Der Bezug zur Tradition der Sonnenhymnen

Erst im vierten Drama wird für den Zuschauenden deutlich, dass alles, was sich in den Mysteriendramen entfaltet, auf eine bestimmte Auffassung der Mysterien im alten Ägypten bezieht.

Rückblickend erscheint dann bereits dieses Gedicht als eine Einstimmung, die an den Sonnenhymnus von Echnaton (Pharao von1351-1334 v. Chr) anknüpfen könnte:

ECHNATON

Schön erscheinst du im Horizont des Himmels,
du lebendige Sonne, die das Leben bestimmt!
Du bist aufgegangen im Osthorizont
und hast jedes Land mit deiner Schönheit erfüllt.
Schön bist du, groß und strahlend,
hoch über allem Land.

„Nach Echnaton ist Gott eine kosmische Macht, die sich als Sonne und Licht den Menschen mitteilt.“
zitiert nach Universität Klagenfurt „Der Sonnenhymnus des Echnaton“ (besucht 20.02.2022)

Echnaton

Echnaton – Gesichtsrekonstruktion der Mumie

Theosophie“ ist auch eine Suche, sich verstehend dem Göttlichen in der Welt anzunähern und sich erkennend mit ihm zu verbinden.

Das Rosenkreuzermysterium „Die Pforte der Einweihung“ knüpft mit seinen ersten Worten an dieses erkennende Verstehen und Verehren der Göttlichkeit der erschaffenen Welt und der in ihr leuchtenden Sonne an. Erst die Sonne macht im Raum der Natur die Welt in ihrer vollen Schönheit und Klarheit wesentlich erfahrbar.

Das „Singen der Kinder“ kann hier naiv oder realistisch als das Singen von Kindern gesehen werden, denn so wird es ja auch als Theater gezeigt. Oder man kann es als Ausdruck höchster Reifung einer (wieder) zum Kind gewordenen Seele erfahren.

Schon Friedrich Nietzsche, zu dem Rudolf Steiner eine innige Beziehung hatte, hatte in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ das Kind als höchste Wandlungsform des Geistes beschrieben: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ (zitiert nach Friedrich Nietzsche, zeno.org; besucht, 20.02.2022)

Das Kindlichkeit als Ausdruck hoher Reife gelten kann, thematisiert Rudolf Steiner passenderweise ausdrücklich in seinem ersten Drama, wenn er die Figur „Benedictus“ im dritten Bild das Wesen von „Maria“ wie folgt charakterisieren lässt:

BENEDICTUS


Als reife Frucht von vielen Leben
Betritt das Erdensein die Seele,
Die solche Stimmung zeigt.
Und ihre Kindlichkeit ist Blüte,
Nicht Wurzel ihres Wesens.

(GA 014, S. 61)

Was im Eröffnungslied als kindliche Naivität erscheinen kann, verweist in Wirklichkeit auf die tiefsten Grundlagen und Quellen dieses Rosenkreuzermysteriums.