Einleitung
Gegenstand
Die vier Mysteriendramen von Rudolf Steiner wurden in den Sommern von 1910 – 1913 uraufgeführt. Sie wurden von Rudolf Steiner kurz vor den Erstaufführungen niedergeschrieben. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 verhinderte die Fertigstellung des fünften Dramas. Es ist wahrscheinlich, dass Rudolf Steiner einen Zyklus von sieben Dramen erschaffen hätte. Ab 1913 ändert sich jedoch seine Ausrichtung. Während er ab 1907 der Kunst grosse Aufmerksamkeit schenkte, richtete er seine Arbeit mit dem Ausbruch des Krieges zunächst auf eine Untersuchung der Zeitgeschichte aus, um dann eine Wende ins Praktische zu vollziehen.
Die Mysteriendramen beginnen nicht als ein Konzept von sieben Dramen, sondern mit dem Anliegen, das „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ von Johann Wolfgang von Goethe auf der Bühne „zu stellen“. Während der Arbeiten zur Dramatisierung von Goethes Märchen entstand das erste Mysteriendrama: „Die Pforte der Einweihung“.
Kontext
Rudolf Steiner hatte 1904 die Leitung der an die Theosophische Gesellschaft in Deutschland angeschlossene esoterischen Schule erhalten. Er war ihr „Arch Warden“. In dieser Organisation fand für Interessierte neben der öffentlich zugänglichen Arbeit eine Schulung und Praxis in drei Feldern statt.
1907 erklärte die damalige Leiterin der Gesamtorganisationen der Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, auch die Organisation der esoterischen Schule in Deutschland als selbständig, und autorisierte Rudolf Steiner, diese nach seinem Ermessen auszugestalten. Rudolf Steiner war bereits 1902 zum Generalsekretär dieser Gesellschaft ernannt worden. Dadurch war die Deutsche Sektion der öffentlich zugänglichen Theosophischen Gesellschaft selbständig geworden. Zunächst waren alle internationalen Arbeitsgruppen direkt dem Hauptsitz zunächst in New York (USA) dann London (UK) und später Adyar (IN) angeschlossen. Da die Verwaltung zu aufwendig wurde und die regionalen Bedürfnisse nicht abdecken konnte, wurde die Theosophische Gesellschaft unter der Leitung von Beasant in nationale Gesellschaften ausgegestaltet.
Mit der Eigenständigkeit der esoterischen Schule in Deutschland verband Rudolf Steiner eine Fokussierung auf europäische theosophische Traditionen. Namentlich richtete er seine Arbeit von nun an ausdrücklich auf Christian Rosenkreutz aus. Er stellte damit die Europäische Spiritualität seit der Renaissance ins Zentrum der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland, während sich grosse Teile der übrigen Arbeit der Theosophischen Gesellschaften mehr am alten, vedischen und buddhistischen Indien sowie deren Traditionen und Ausgestaltungen in Tibet orientierte. Den meisten der Theosophie von Helena Petrovna Blavatsky verbundenen Gruppen blieb jedoch die Faszination und der Bezug zur Esoterik des alten Ägyptens gemeinsam. Dieser Bezug wird sich 1913 im vierten Mysteriendrama „Der Seelen Erwachen“ nochmals sehr deutlich zeigen.
In der Zeit von 1907 bis 1913 spielte die dramatische Literatur im Schaffen von Rudolf Steiner eine besondere Rolle. Dabei ging es auch um die Vermittlung und Darstellung spiritueller Anliegen und Erfahrungen. Rudolf Steiner befasste sich in kleinen und grösseren Aufführungen, Einstudierungen und Besprechungen mit ihm zeitgenössischer Kunst und Literatur. in der dramaturgischen Arbeit ging es ihm um eine Wiederbelebung und Neugestaltung alter Mysterienkunst, wie sie unter anderem in den antiken Eleusinischen Mysterien stattgefunden haben. Dieses Engagement schloss die Schaffung einer Art Tempelbau mit ein. Dieser sollte unter anderem den wiederkehrenden Aufführungen seiner Mysteriendramen einen würdigen und passenden Raum und Rahmen geben. Die Uraufführungen der Mysteriendramen fanden zunächst in angemieteten, öffentlichen Theatern statt.
Rudolf Steiners klare Ausrichtung auf Christian Rosenkreutz spiegelt sich im Siegel für das erste Drama von 1910 „Die Pforte der Einweihung“ besonders deutlich wieder.
Wir finden hier sieben nach aussen und sieben nach innen geöffnete Bögen. Die äusseren Bögen enthalten die Buchstaben: E D N J C M P und im Zentrum stehen die Buchstaben: SSR
Diese Buchstaben sind die Anfangsbuchstaben des Rosenkreuzermantrams in Latein:
Ex Deo Nascimur
In Christo Morimur
Per Spiritum Sanctum Reviviscimus
Die Anordnung der Buchstaben stellt zudem den belebenden und (wieder-)erweckenden Heiligen Geist (Spiritum Sanctum) ins Zentrum. Damit verdeutlicht Rudolf Steiner in meiner Auffassung zugleich, worum es ihm in seiner spirituellen Wahrheitssuche primär geht: die Belebung und Erweckung höherer geistiger Kräfte in der Tradition von Kontemplation und Transformation.
Diese Wahrheitssuche steht in der Theosophie traditionell über oder ausserhalb jeder religiöser Konvention. Sie betrachtet die Inhalte aller Religionen als Ergebnis solcher Suche und Erfahrung. Und diese Grundhaltung bleibt für Rudolf Steiner auch nach seiner Trennung von der Theosophischen Gesellschaft (TG) und der Weiterführung seiner Arbeit als Anthroposophie bestimmend. Diese Grundhaltung wurde auch im Siegel der Theosophischen Gesellschaft symbolisiert.
Rudolf Steiner beschreibt seinen Ansatz als wissenschaftlich, genauer als geisteswissenschaftlich. Er setzt die individuelle Anstrengung in Form von Studien voraus. Es geht also nicht darum, Konventionen zu befolgen, sondern selber zu denken und sich Wissen und Erkenntnisse zu erarbeiten.
Der Gegenstand dieser Studien ist der Mensch, das Menschliche selbst in seiner je individuellen Ausgestaltung und Bedingtheit. Dazu gehört, dass uns nicht nur als Menschen bestimmte Grundelemente und Grundbedingungen von Sein und Dasein verbinden. Diese können und sollen sowohl ins Bewusstsein gehoben als auch auf ihre Aktualität hin befragt und immer wieder neu beschrieben werden.
Anliegen
Diese Webseite widmet sich den Inhalten, den Kontexten und Interpretationen rund um die Mysteriendramen Rudolf Steiners. Sie strebt dabei nicht nach Vollständigkeit oder Konsens. Sie ermöglicht vielmehr Einblicke in meine Beschäftigung mit diesem Werk. Dabei geht es mir mehr darum, eine Anregung zur eigenen Arbeit anzubieten, als etwas Fertiges darzustellen.
Alexander Höhne, Basel im Januar 2022